Manuskripta Textagentur

Suche
Close this search box.

Du sollst nicht grüßen - aus der Reihe Geschichten, die das Leben schrieb

Heute früh hatte ich ein Erlebnis der besonderen Art. Wie immer spazierte ich frühmorgens, mein Hund hatte mich an der Leine, vorbei an gerade erwachenden Häusern in Richtung jener Wiese, die für meinen treuen Gefährten der standardisierte „Entladeplatz“ ist. Ganz selten treffe ich bei diesen morgendlichen Spaziergängen andere Menschen. Wenn, dann welche, die ebenfalls von ihrem Hund ausgeführt werden.

Heute allerdings kam mir eine Person im Jogginganzug entgegen, etwas größer als ich, eher schlank. Rasch wechselte ich die Straßenseite, ich meide es seit Corona Anderen allzu nahezukommen, ging weiter meiner Wege und kümmerte mich um das „Geschäft“, dass mein morgendlicher Führer gerade im Begriff war abzuschließen.

Plötzlich hörte ich aus der Richtung, in der ich den Mann, die Stimmlage ließ vermuten, dass es sich um einen solchen handelte, verortete, ein laut vernehmliches „Guten Morgen“. Mein Kopf, seit Corona habe ich es mir angewöhnt, meine Blicke immer nur max. 50 cm vor meine Füße fallen zu lassen und nur alle 3 Sekunden den Blick zu heben, um auf den Touchscreen meines Phones zu blicken oder eventuellen Hindernissen auszuweichen, fuhr ruck- und reflexartig in die Höhe.

Hatte ich richtig gehört? Mir ist fast das Gacki-Sacki aus der Hand gefallen. Zuerst dachte ich, mein Hund hätte gehustet. Hat der Mann mir oder jemand anderem einen guten Morgen gewünscht? Wenn ja, wie kommt der dazu? Und: soll ich darauf was sagen? Zum Glück hat mein Begleiter mir geholfen. Mit lautem Bellen machte er darauf aufmerksam, dass solche Störungen nicht mit seiner Erwartungshaltung, die er an einen ganz normalen Morgenspaziergang hat, konform gehen.

Schnell entfernte sich die Person, ohne eine weitere Reaktion von uns einzufordern und ich hielt mich an der Leine fest, Herzrasen und Schwindel erfassten mich, ob dieser unvermuteten Störung meines Privatlebens. Wo kämen wir hin, wenn Menschen einander grüßen, sich gar in die Augen blicken und noch schlimmer: sich anlächeln.
Ich weiß schon, das sind Relikte aus alten Zeiten. Damals als ich in die Schule ging, stand es sogar in den „Benimm-Regeln“ für junge Leute, dass man anderen Menschen mit einem freundlichen Gruß die Ehrerbietung zeigte, ob man wollte oder nicht. „Kannst Du nicht grüßen, Du junger Fratz“, schallte es im Falle der Missachtung dieses Gebots laut über die Straßen und Wege, die wir als Heranwachsende täglich begehen durften. Diese Zeiten sind vorbei und es ist nicht schade darum.
Wir alle durften lernen und erkennen, dass allzu nahe Kontakte, Austauschen von Blicken, Anlächeln oder gar ein Schütteln der Hände, Gebräuche und Traditionen sind, die eine aufgeklärte und moderne Gesellschaft nicht braucht. Vor allem Corona ist es zu danken, denn es hat uns die Augen geöffnet. Das Tragen der Masken in allen Lebenslagen hat uns gezeigt, wie überholt diese alten Verhaltensweisen schon waren und es war deshalb lange an der Zeit, mit ihnen aufzuräumen.

Unaufgefordert ist niemand anzusprechen oder anzublicken, dies muss auch in den Lehrplan unserer Schulen. Die einzig legitime Art der Stand-Up-Konversation kann nur lauten „Kannst Du nicht auf Dein Handy schauen“, wenn wieder mal ein ungezogener Fratz uns erfahrenen Erwachsenen mit fragendem Blick ins Gesicht schauen möchte. 

Erwachsene, reife Personen, die mit beiden Beinen in einer Wiese stehen, sind nicht anzusprechen und man muss es tunlichst vermeiden, einen Blick auf sie zu richten. Falls Sie geehrte Leserin, geehrter Leser dies nun nur darauf beziehen, dass es selten vorkomme, dass Menschen mit „beiden Beinen in einer Wiese stehen“, so sei Ihnen gesagt, dies ist nur ein Sinnbild. Es kann auch ein Bein am Asphalt stehen und eines in der Wiese. Oder beide Beine am Straßenpflaster, am Teppich oder sonst wo. Zum Beispiel könnte diese nicht anzusprechende Person auch auf einer Parkbank sitzen, dann steht sie nicht mit beiden Beinen. Diese dienen dann nur zum Aufstehen. Ich hoffe, sie haben mich verstanden. 

Zu guter Letzt: Wehren wir uns mit aller Kraft dagegen, dass uns unbekannte, kaum bekannte, nur am Rande bekannte Menschen, welchen Geschlechts auch immer, grüßen, ansprechen oder gar versuchen uns zu berühren. Wir alle müssen uns der unermesslichen Ausdrucksmöglichkeiten eines gesenkten Kopfes bewusst sein, es verinnerlichen, dass allzu intensive Nähe, dass alles, was die Länge eines ausgewachsenen Elefanten mit ausgestrecktem Rüssel unterschreitet, vollkommen störend für unsere soziale und intellektuelle Entwicklung ist. Und gefährlich ist es obendrein. 

 
Manuskripta Geschichten - junger Mann mit Smartphone

Verlassen wir uns besser auf die 24/7-Präsenz unserer Tablets, unserer Smartphones. Dort finden wir die Wahrheiten über die Welt und das Leben, aber doch nicht in den Augen der Menschen, mit den wir es tagtäglich, wöchentlich, monatlich, jährlich zu tun haben.  Social Isolation ist das neue Paradigma, an dessen Umsetzung und Verwirklichung wir mit aller Kraft arbeiten müssen. Auch wenn es manchmal schwerfällt, einige Unverbesserliche immer wieder in alte Muster fallen, Menschen, deren Ablaufdatum in erreichbarer Nähe steht, den Wegfall guter Sitten bemängeln: Wir lassen uns nicht beirren. Der Weg zur gruß- und vielleicht sogar sprachlosen, in jedem Falle unbedingt anblicklosen Gesellschaft ist beschritten. Wir lassen uns davon nicht abbringen. Möge die Aufgabe gelingen!